Im Vorraum des Hostals hängen die sauberen Laken zum trocknen, der schmale Garten ist ordentlich hergerichtet und im vorbeigehen bemerke ich die wahrscheinlich strenge Hand mit der der Übernachtungsbetrieb geführt wird. Mir fällt die schmale Frau mit den betriebsamen Händen auf, grüsse immer artig, wofür ich ein "gracias, linda" "Danke, hübsche" mitnehmen darf. Ich vermute die Ordnung liegt in ihrem Kompetenzbereich und liege damit richtig, da wir mehrmals von anderen Mitarbeitern unterbrochen werden, die um Arbeitsanweisungen bitten.
Genau weiss ich nicht mehr wie es dazu kam, jedenfalls verstrickten wir uns in ein längeres Gespräch.
Sie erzählte mir wie vor 40 Jahren die Revolution begann, als sie gerade 15 Jahre alt war. Voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft standen die Menschen gemeinsam vor der sozialistischen Idee der Sandinisten und deren Partei, der FSLN. Die langkährige Diktatur wurde gestürzt und das wichtigste Aushängeschild, eine Alphabetisierungskampagne, ist bis heute bekannt und wird gerühmt. Ansonsten blieb nicht viel übrig von der Aufbruchsstimmung, so erzählt sie mir, emsig die Laken dabei faltend. Mittlerweile wird die Partei um den Präsidenten Ortega von Korruption, Kriminalität, Polizeigewalt und Willkür bestimmt. Zuletzt brach sich 2018 der Unmut der Bevölkerung, durch angekündigte Reformen des Sozialsystems ausgelöst, in Protesten und Demonstrationen bahn, so glaubt man wenigstens. Bis heute wurde es nicht geklärt ob die Ausschreitungen nicht bei einem Feuer in einem Reservat indigener ihren Anfang nahm. Fakt ist jedoch, dass mehr als 300 Menschen ums Leben kamen, da die Polizei die Kundgebungen mit erheblicher Gewalt niederschlug. Weitere Konsequenzen die von der Regierung durchgedrückt wurden, war eine Erhöhung der Zensur und härtere Unterdrückung der Pressefreiheit. So wurde etwa die Fernsehausstrahlung während den einige Wochen anhaltenden Ausschreitungen eine zeitlang komplett unterbrochen.
Leòn, die Stadt, in der ich nun sass, bei einem Kaffeeplausch mit der Reinigungsfrau, war eine der Hauptakteure in der Protestwelle und auch die kleine Dame mitte 50 stand gegendie FSLN auf, um ihre Meinung kundzutun, nicht ohne jetzt mit gravierenden Konsequenzen Leben zu müssen. Schon im Alltag, so erzählt sie mir, ist die Parteizugehörigkeit durchaus von Belang, ähnlich wie man es auch noch von der DDR kennt, jedoch unter anderem sogar massiver. Eine Behandlung im Krankenhaus wird nur mit Parteiausweis gewährt und in den Universitäten sind freie Professoren durch parteitreues, jedoch mitunter keineswegs kompetentes Personal ausgetauscht worden. Fast die gesamte intellektuelle Schicht Nicaraguas ist entweder geflohen oder in Gefängnissen, in denen gefoltert und vergewaltigt wird. Für die Zukunft Nicaraguas und das komplette Bildungssystem ist das natürlich desaströs und auch die Tochter meiner Gesprächspartnerin, die Medizin studiert, leidet unter den wenig fachkundigen Professoren.
Mittlerweile sind wir mit viel zu starken, aber guten Kaffee auf mein Bett umgezogen und sie zeigt mir Fotos ihrer drei erwachsenen Kinder und ich ihr Fotos meiner Familie. Und sie berichtet mir von der Zeit nach dem 18. April 2018 an dem alles begann.
Denunziationen wer an den Protesten teilnahm folgten kurz nach der brutalen Niederschlagung. Restaurants und Hotels durften die nicaraguanische Flagge nicht mehr aufhängen und werden seitdem als "Banderistas", also in etwa "Nationalisten" gebrandmarkt und empfindlich bestraft. Da auch ich eine nicaraguanische Flagge an meinem Fahrrad flattern habe, einfach um den 200jährigen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten Tribut zu zollen, macht sie mich sehr besorgt darauf aufmerksam. Nur öffentliche Institutionen nutzen die Flagge, privat sind sie ein politisches Statement, was mir keineswegs bewusst war. Aber das ist nur ein Beuchteil der Probleme die sie seitdem zu bewältigen hat. Nachbarn, Freunde, Bekannte, sie weiss es nicht genau, sahen sie und ihre Söhne bei den Demonstrationen und denunzierten die Familie. Schon kurz darauf wurde sie bedroht und ihre Söhne sollten verurteilt werden. Wegen was genau, war nicht klar, jedoch schwebte das Damoklesschwert der Inhaftierung über ihnen und sie beschloss ihre Söhne, 21, 24 und 33 Jahre alt in die USA zu schicken. Ihre Tochter war 2018 noch zu jung an den Kundgebungen teilzunehmen. Um in die USA zu gelangen musste sie einen sogenannten "Coyoten", einen Schlepper bezahlen, der 17000 Dollar verlangte um ihre Söhne wohlbehalten durch mindestens drei Länder zu bringen. Einen Teil, wie sie berichtet, müssen sie mit dem Floss zurücklegen und es hört sich keineswegs nach Huckleberry Finn an. Somit musste sie ein Großteil ihres Ersparten und das Ihres ältesten Sohnes für die Flucht ihrer Kinder aufwenden. Und der Ausgang ist keineswegs Gewiss. Die Geschichten über Vermisste, Misshandlungen und Unfälle auf der Flucht Richtung USA häufen sich und auch ich habe schon viel schlimmes gehört.
Erst vor ein paar Tagen erhielt sie Nachricht, dass ihre Kinder die Grenze wohlbehalten erreicht haben. Ich weiss nicht ob jeder Teil ihrer Geschichte sich genau so zugetragen hat. Ich finde es auch nicht wichtig. Wichtig ist es, wenigstens ganz kurz zu bemerken was um mich herum passiert, abgesehen von der Strasse, den netten Menschen und bunten Märkten. Und ein bisschen mehr zu verstehen als davor, etwa wie sich der Sandinismus in Nicaragua entwickelt hat und den vielgepriesenen "sandinistischen" Kaffee der in Deutschland mit einem Solidaritätsversprechen für die Bewegung verkauft wird, hinterfragen zu können. Dank dem Gespräch auf einem Bett in einem touristischen Hostal in Leòn.

Parteipropaganda in Leòn
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Das wegen Veruntreuung geschlossene Museo de la Revoluciòn in Leòn mit antiimperialistischen Graffiti
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Auch die neue Generation ist von den Auswirkunge n der Politik betroffen
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Gedenktafeln und Propaganda der FSLN sind allgegenwärtig
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